" Die Zeit lief mit einer wichtigen Nachricht wie ein Bote. Aber das sind nur unsere Vergleiche." ( Wislawa Szymborska)

24. Juli 2005

Ich bin müde. Die Gedächtniskirche sehe ich aus dem Fenster. Der Zug rollt ein oder aus und jetzt die Straße: Berlin Zoo. Ein im knappen Anzug herausgeputzter Südländer ist angekommen, unten auf der Straße, beim Parkplatz steht er mit seinem Rucksack, jung. Jetzt erinnere ich mich, denn ich konnte verfolgen, dass der junge Mann nicht abgeholt wurde, von niemandem. Er bleibt allein. Ich habe noch Zeit. Neun Stunden.

Aber erst einmal bin ich auf dem Ostbahnhof und habe hier 50 Minuten Aufenthalt. Die Verkäuferin am Kaffeestand hat mir den Zucker gleich hineingetan; servicebewusst, freundlich, gut, wenn sie nicht zu viel Zucker gewesen wäre. Das macht doch Heißhunger.

Ich habe in dem Zug davor das Polnisch-Buch für Erwachsene herausgenommen, Vokabeln gelernt, aufgefrischt, versucht, sie aus dem Pool der Speicherung zu locken. Die andere Sprache - ich denke seit Jahrzehnten in Deutsch. Aber jetzt will ich mich erinnern können.

Nachdem der zu süße Kaffee nun nicht nur alle meine Geister geweckt hat, habe ich mich auf dem Bahnsteig auf eine der Bänke gesetzt und meine Klappschnitten ausgepackt.

Viele Leute hier; noch eine knappe halbe Stunde bis zur Abfahrt Richtung Krakow. Auffallend eine Frau, graues Haar, lang, üppig am Hinterkopf zu einem losen Knoten gebunden. Vielleicht zwanzig Jahre älter als ich. Vom Teint dunkler als die Anderen. Farbenfroh angezogen, bunt. Langer ausgestellter Stufenrock. Jemand, der eine gewisse Majestät ausstrahlt. Hinterher kommt ihr Mann. Wahrscheinlich. Er wirkt weltmännisch, europäisch. Sie lächelt, setzt sich auf meine Bank. Der mondäne Mann folgt. Er spricht sie französisch an. Sie schauen in meine Richtung. Gesprächsbedarf?

Ich will nicht. Stehe auf, rauche etwas abseits eine Zigarette. Keine Lust auf Flüchtigkeiten. Will mich ganz auf meine Zeit konzentrieren: Auf das Wiedersehen, das Hervorholen dieses großen Stückes Identifikation.

11.45 Uhr.

Die Hälfte der Fahrzeit ist vorbei. Ab Berlin sitzt ein dicker Mann neben mir, ein Bayer, der direkt bis Krakow fährt. Er versucht die ganze Zeit ein Schachspiel, das in einem Rätselheft abgebildet ist, zu lösen. Er sagte, es sei schwer und das musste es wohl sein, so lange wie der brauchte. Für mich wäre es das sowieso. Keine Brettspiele, keine Karten. Alles Zeitverschwendung für mich.

Seit wir die Grenze überschritten haben, hat der ICE zehn Minuten Verspätung. Kontinuierlich. Der Bayer hat das Schachspiel noch nicht bezwungen.

Wir sind in Legnica. Der Bahnhof wirkt ärmlich. Die Leute draußen auf dem Bahnsteig tragen ihre Habseligkeiten in Plastiktüten. es ist anders hier. Ich gehe doch noch mal ins Bordrestaurant.

28. Juli 2005

Es ist vorbei. Ich sitze wieder im Zug. Der ist voll. Diesmal habe ich nur einen Platz in der Mitte. Ich hätte gern nochmal auf die Häuser geschaut. Schon Brzeg. Ich habe nicht einmal das Elternhaus gesehen. Inzwischen wird es von Fremden bewohnt. Was komisch ist, nur ein sogenannter Zufall, ist der fast gleiche Name: Wozniak-Wozny.

Am Bahnhof in Opole habe ich mich von meiner Cousine verabschiedet und ihrer Tochter. Anja hat ihre Insulinpumpe abgeklemmt und ihre Zöpfe ausgekämmt. Sie ist bereits größer als ihre Mutter. Wird wohl so groß wie meine Tante werden. Ich habe auf den Notenständer von Franek einen Umschlag mit Geld hingelegt. Mit einer Dankeschön-Karte, die es im Blumenladen für einen Zloty gab. Statt direktem Dank oder Zahlung der Unkosten, was von der Verwandtschaft hundertprozentig abgelehnt worden wäre. Sie alle haben sich sehr bemüht. Ich hoffe, es hat ihnen nicht nur Erleichterung gebracht, als ich nach vier Tagen wieder abreiste. „Ich hoffe, es hat ihnen nicht nur Erleichterung gebracht.“. So hätte es zumindest mein Onkel formuliert.

Der Onkel Jozef hat lieber Äpfel geschält; als mit zum Bahnhof zu fahren. Auch weil er sowieso nicht mit in den Fiat gepasst hätte; auch wenn er sich in den letzten Jahren mehr beim Essen zurückgehalten hätte. Der Mann, der die ganze Welt gesehen hatte und jetzt in Kaniow blieb und ihm nur noch die Musik geblieben ist.

Zumindest der Rest davon - in einer Band aus zwei ehemaligen Philarmonikern und willigen Dorf-Amateuren. Reste sind gut für ihn. „Gut genug“, sagte er. „So wie das Mittagessen, das sich aus solchen ergeben würde.“

Gestern noch waren der Onkel und ich mit den Fahrrädern an der Oder, die letzte manuell betriebene Schleuse besichtigen. Es war schon toll, wie das Wasser gegen den alten künstlichen Steg presste. Ich war beeindruckt und rauchte mit einem Schleusenarbeiter eine Zigarette. Roman. Das war schon toll.

Auf dem Rückweg sind wir an Häusern vorbei, die von Hiesigen bewohnt wurden.

Als wir vor 35 Jahren ausgesiedelt sind, wussten die alle noch nicht wie europäisch sie einmal würden. „Und plötzlich haben sie Angst, dass ihre alten Unterhosen von " den Fremden und Herumstreunenden“ von der Wäscheleine geklaut wird!“ Onkel Jozef schrie vor Lachen als er diese Leute kommentierte. Er wollte mir nur das Dorf zeigen, wie es inzwischen war, sagte er. Vielleicht schon immer war? Wir radelten im Schritttempo.

Ein kleiner Mann sprang auf den glatt asphaltierten Weg: Stopp! Eine gebückte Frau in einem groß gemusterten Kleid und mit einer Frisur, die sich gewiss als 17jährige heiß erwünscht, zugelegt hatte, stand im Meterabstand hinter ihm. Wasserpolnische Mundart. Po slunsku. Einen Todesfall hatte es gegeben. Ein Besoffener, der noch ganz betrunken in der Ausnüchterungszelle sitzt, sich seiner Schandtat noch völlig unbewusst, hat einen Familienvater totgefahren, gestern auf der Straße nach Kupp.

Gestern, als ich zum Klassentreffen war, wahrscheinlich gerade ein Glas Wodka getrunken und heimlich dann mit Woda- Wasser aufgefüllt habe. Nach der Ansprache von Jacek Mehl - das war übrigens der andere Philarmoniker der Dorf-Band meines Onkels. Oder vielleicht hatte ich gerade den vierten Kloß in mich hineingestopft, obwohl auch schon zwei Rouladen und viel Kapusta im Bauch waren.

Parallele Welten.

Vielleicht, weil wir so sorglos lachten, hat uns der kleine Mann angehalten; Stopp! Aber der kleine Mann war wohl vor sechzig Jahren mit meiner Mutter in eine Klasse gegangen und hat gleich meine Familienähnlichkeit gesehen. Er ließ die Mutter herzlich grüßen und bei der großen Oderflut vor acht Jahren hat er alles verloren. „Alles, was wir unter Entbehrungen und Trennung der Familie durch Arbeit in Deutschland verdient hatten“, sagte seine gebückte alte Frau.

Der gut aussehende Zugnachbar, der auf der Rückfahrt links neben mir saß, ist weg. Er hat eine auffällige Tasche stehen lassen. Vielleicht eine Bombe, bestimmt aber nur Dreckwäsche und Schnaps. Hinter dem Fenster stehen Sonnenblumen auf den Feldern unter einem verhangenen Himmel.

Wir haben uns, als wir an der Oder waren; meine Gedanken stocken wieder.

„Bitte zeigen Sie die Fahrkarten.“ Zum zweiten Mal! Es riecht aufdringlich: Eine reifere Dame besprühte sich gerade ausgiebig. Das muss eine Art Rasierwasser für Damen sein. Da kommt der besser duftende Kaffeewagen. Ein Euro für einen Becher. nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass beim momentanen Umrechnungskurs eins zu Vier bis Fünf die Durchschnittsbeschäftigten nur zweihundert Euro im Monat verdienten. Sie verdienen verschieden, sagte meine Cousine Uszka, die Kinderpsychologin ist. Im Durchschnitt 700 Zloty im Monat. Das hat auch Dorota Warwas auf der Feier gesagt, als ich mich danach erkundigte, weil am schluss so viel Geld übrig war, trotz des Essens, der unzähligen Getränke, Tanz. Es war viel. Auch nach Jacek Mehls Meinung. Er unterbreitete in seiner Schlussrede den Vorschlag, nachdem sein und mein Vorschlag ignoriert wurden, es nämlich dem Heim für geistig behinderte Kinder zu spenden, jedenfalls wurde nun der Vorschlag unterbreitet, das Geld der Orts-Kirche zu geben; sie befand sich gerade im Baugerüst, um alle Jahre wieder saniert zu werden. Alle Jahre wieder, sagte Jacek natürlich nicht. In der einen Stunde, in der wir die Klassenkameradenzur Heiligen Messe dort waren, konnte ich mir ein aktuelles Bild machen. Damals in 1965 als wir eingeschult wurden, hatten wir nichts gewusst von der Welt - nur unser Dorf; und von Gott - nur unsere Kirche. Ich war die einzige, die sich nicht bekreuzigte, vorher die Fingerspitzen ins Weihwasser tauchend. Was für ein Tag. Sie sind Frauen und Männer geworden. Das Wir konnte ich nicht empfinden? Viele meist untersetzt, einige der Jungen jetzt kahlköpfig. Die Schulfreundinnen bzw. Schulabsolventinnen bzw... behangen mit Gold: Kruzifixe, Heiligenbildchen auf bebräuntem Fleisch zwischen den Spaghetti-Trägern. Lydia schluchzte.

Legnica

Die Feier war vor drei Tagen, am Samstag, nachdem wir uns vorher in der Schule getroffen haben. Der Bruder von Dorota Warwas war jetzt Schuldirektor. Der Vater von celina, der Direktor aus meiner Zeit liegt bereits auf dem Kirchhof - unter dem Kreuze Christi mit Parteiabzeichen am Reverskragen, hörte ich Onkel Jozef sagen. Wir hatten das grab von Pan Bielinski nach der Messe aufgesucht und auch das Grab von andrzej kokot, der in der dritten Klasse an einem Gehirntumor verstorben war. So viele Ereignisse wieder. Schon am Freitag. Abends auf dem Sportplatz als ich kurz vorbei kam auf dem geborgten Fahrrad.

Wir hatten uns alle umarmt und geküsst: wer bin ich? Bist du nicht Ewa? Allerdings bin ich durch die dunklen krausen Haaren leicht wiederzuerkennen - ausserdem waren schon alle da. Wer bin ich? diese Frage. Vielleicht hatte Lydia deshalb in der Kirche während unserer Sonder-Messe geweint und die schwarze Wimperntusche lief ihr über die gepuderten Wangen. Als sie die große Nase schnäuzte, war auch roter Lippenstift im Taschentuch. " Der Herr sei mit euch. Und mit deinem Geiste." antwortete die um einige viele Ehepartnerinnen und Ehepartner erweiterte Klasse. Die Bänke in der Sitzfläche kurz und ohne Kissen hart. Mir wäre ein Foto vom Altar gewesen, aber ich beherrschte meine Sensationslüsternheit. Nach polnischer Art gehen wir jetzt esse, sprach mich jemand in gebrochenem Spätaussiedlerdeutsch an.

Ich bin noch immer in Legnica.

Seit ungefähr zwanzig Minuten. Mein linker Zugnachbar ist immer noch abwesend. Er ist kein Terrorist, ich sah ihn vorhin im Speisewagen sitzen. Jetzt habe ich seinen Fensterplatz belegt. Das zunehmende Geschnatter im Waggon nervt mich.

Noch vor drei Tagen hatte der Pfarrer in der Kirche eine rührende Predigt gehalten. Sagten jedenfalls die anderen, die es verstanden haben. Lydia sagte, es seien ihr einfach die Tränen gekommen. Ich finde, sie hat sich äußerlich wenig verändert; immer noch hellgoldenblond. Riesige dicke Nase, als sei sie das den Erinnerungen an Weihrauch und Eukalyptus und den vielen Jahren, die dabei vergangen waren, schuldig. Oder einfach zu viel Nasenspray. Vielleicht konnte sie ihren Mann, den eigenen deshalb noch so gut riechen? Ich habe neben ihm gesessen, beim großen Festessen. Er saß rechts neben mir: zart, sehr gemässigt. Ihre Familie war zwischen den beiden Eheringen für immer geschützt. Mir schräg gegenüber hat Zigrid gesessen, die ehemalige Nachbarin, die seit den 1980zigern als in Polen der Ausnahmezustand angeordnet war, mit ihrem Efek in Köln lebt. In einer Eigentumswohnung, der durch zusätzliches Putzen am Wochenende, zusammengesparten.

Zigrid war nach dem Abitur kurz in der Berufsschule gewesen und hat dann im Elektrizitätswerk in Kup gearbeitet als ungelernte Kraft. Mit 20 hat sie ihre Tochter Tamara bekommen, ihr zweites Kind.

Ich muss zugeben, ich habe nur als Kind an sie gedacht, dann nicht mehr. Nur am Anfang habe ich sie vermisst. Sie konnte bleiben.

Als meine Eltern damals sagten, wir würden nach Deutschland, ziehen, lag hoher frischer Schneeauf den Wiesen. Meine Oma sprach kein Wort mehr. Ich soll nächsten Tag in die Schule gelaufen sein, erfuhr ich jetzt. Renata flüsterte es mir ins Ohr: Sie haben dich nicht rein gelassen. Der Lehrer hat dich am Tor weggeschickt. Das habe ich gar nicht mehr gewusst. Auch jetzt kann ich mich gar nicht erinnern. Als wir nach der Nachtfahrt in der DDR ausgestiegen waren, war der weiße Schnee verschwunden. Daran erinnere ich mich. Und an das hässliche Zimmer in der Herberge mit den Doppelstockbetten. Ich hörte eine Sprache, die zu stehen schien und dann im Zeitlupentempo wie eine Lawine auf mich zu rollte. An Pani Teluk, meine Klassenlehrerin erinnere ich mich; sie hatte mich zum Piroggenessen eingeladen. Sie hatte mir ein Buch über die Sirenka von Warschau geschenkt und sie hatte ein blinkendes Bad wie meine Großeltern Julia und Szimon in Ozimek. Sie sprach vornehm und groß und kräftig wie meine Oma, die richtige, die bei uns wohnte, damals. Am Wald, wo im Sommer die Roma ihre Zelte aufschlugen und Oma nach Eiern fragten. Oma gab nie. Zuckerkuchen, frischgebackenen, den gab sie. Im Paradies... Nur der Wald war geblieben. "Der Rest ist gut genug", hatte Onkel Jozef gesagt. Die Kirche stand immer noch am anderen Ende im Dorf. Meine Unterstufen-Klasse wollte eben, dass diese Kirche die übriggebliebenen 500 Zloty bekommt. Möge dem Kinderheim spenden, wer sich dazu bewegt fühlt, schloss Jacek Mahl seine Schlussrede.

Ich habe jetzt nicht auf die Uhr geguckt, aber es muss kurz vor Forst sein: Grenzübergang. Die letzte Ölung vor der Grenze, hat ein alter Herr po slasku gesagt, als der Kaffeewagen anrollte. Ich musste eingenickt sein; jedenfalls habe ich geträumt: Von Roman, der mich beim Tanzen im Kreis plötzlich schnappte und in die Luft geworfen hat als wäre ich eine Feder. er hat mich auf seinen Armen, den von der Schleusenarbeit starken, getragen. Ich leuchtete in meinem eisblauen Hosenanzug, den mir meine Mutter für dieses Treffen geschneidert hatte. Das ist Ihre Farbe, hatte einmal eine teure Stilberaterin zu mir gesagt: Eisblau.

Forst. Grenze.

Die biederen Herrschaften dieses Abteils sind kleine Schmugler. Sie stopfen ihre Zigarettenstangen in die Wände.

Ich bin bereits in Cottbus. Auch hier noch sichtbare Spuren von Entbehrung. Lydia hatte geweint, sagte Zigrid zu mir am Mittagstisch. Ich ahbe es gesehen, antwortete ich. ich hatte nicht geplant, diese ehemaligen Schulfreunde oder wie auch immer je wiederzusehen. Sie waren nicht in meinem Bewusstsein. Zigrids Mutter, die Nachbarin ist noch immer mit meiner Mutter befreundet und die hatte meine Mutter informiert und mir damit diese Einladung übermittelt. Dann hatte meine Mutter ihre Cousine angerufen. Sie alle wohnten noch in Kaniow. Wir wollen hier auch sterben, sagte Onkel Jozef.

Wenn Zigrid Lust hat und ihre Eltern besuchen will, kann sie auf der Durchfahrt von Köln Halt bei mir Halt machen und mich besuchen.