Alle Erwartungen übertroffen, steht in der Zeitung: Die große Sommerausstellung " Dutch Design - Huis van Oranje" im Schloss Oranienbaum hat bereits am ersten langen Wochenende 5.000 Besucher gezählt.

Der 5000-erste Besucher holte auf der Rückfahrt, im Auto drei Blatt Toilettenpapier aus seiner Anorak-Innentasche, weiß in blauen Untergrund geprägt. Jim Lenning sagte: „Walfische“. Er war total begeistert: „Die habe ich im Schloss stibitzt.“

Dann der gedankliche Bogen zurück: Bulgarien, in einem Hotel in den sechziger Jahren. „Im Auto saß ich damals jedenfalls nicht“, sagte er. Alle lachten. An den üblichen Haken der Wasserklos, an der Wand hingen die zurechtgerissenen Zeitungspapier-steifen damals hatte seine Sammel-Leidenschaft begonnen:

„Da war die Mickymaus drauf“, sagte er. „Ich brachte es nicht fertig, mir mit der Mickymaus den Po zu putzen.“

Das war vielleicht schon ein Generations-Unterschied; Jims Neffe - der Neffe - hätte jetzt „Arsch-Abwischen" gesagt. Onkel Jim hatte damals diesen Zeitungs-Mickymaus-Streifen in seinem Tagebuch aufbewahrt und später als Andenken in seinen selbst restaurierten Jugendstilschrank gelegt, in Pennsylvania in einem Ort, zwei Stunden von New York entfernt. Übrigens, hatte er in diesem Ort das einzige Haus weit und breit, auf dessen Vorgartenrasen Gänseblümchen wuchsen. Onkel Jim hatte sie bei einem seiner jährlichen Deutschlandbesuche einmal mitgenommen und dann einfach eingepflanzt.

„In den USA gibt es kein geblümtes Toilettenpapier“, sagte er.

Beate musste über das Wort "geblümt" schmunzeln. Also kein bedrucktes Klopapier; deshalb hatte der Neffe -dieses Sandpapier so gerne benutzt. Ihre Gedanken wurden ihr nun zu vulgär, sie musste unwillkürlich in den Rückspiegel des Autofahrers gucken, so als ob sie prüfen wollte, ob er wusste, was sie dachte.

Aber was sagte ihre Schwägerin immer? Selbst Goethe sei nicht stets der Schöngeist gewesen, das hielte doch niemand aus. Dieser Spruch war natürlich immer an deren Mann gerichtet gewesen; zu Recht übrigens, fand Beate.

Anne saß auf dem Beifahrersitz und schaute in die Landschaft Richtung Dessau. Sie hatte vorgeschlagen, mit dem amerikanischen Onkel brunchen zu gehen, ins Schwabehaus, da war es stets so gemütlich gewesen und ihrem Mann hatte es dort letzten Dienstag auch gut gefallen; und seinen Freunden vom Kunsthandwerker-Verein auch, sagte sie zu Beate.

Natürlich hatte sich Anne gleich um die Plätze gekümmert, aber einen Brunch gab es erst ab sieben Personen, hieß es. Natürlich hatte Anne dafür Verständnis.

Stefans Frau Anne und seine Schwester Beate arbeiteten zusammen, Sachbearbeiterinnen bei der Kommune. Anne saß im Souterrain in der Datenverarbeitung und Beate saß im Erdgeschoss im Bürgerbüro und verteilte Termine für die Sperrmüllentsorgung und für die Elektrogeräte-Entsorgung. Es gab pro Person 0,5 Kubikmeter kostenlose Sperrmüllentsorgung, was jetzt aber kostenfrei hieß.

Der Neffe, Jims Neffe, wohl ihrer aller Verwandter war inzwischen wieder in den Staaten, irgendwo in Kalifornien, hieß es; er meldete sich nicht mehr; bei niemandem übrigens, sagte Jim.

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Aber er, Jim Lenning war gekommen, der Onkel, der zweite Ehemann der Kusine von Beates und Stefans Mutter.

Am gemeinsamem Frühstückstisch auf Arbeit hatten sich die beiden Frauen dann doch ausgemacht, noch irgendetwas mit dem Onkel zu unternehmen;

„was Schönes“, sagte Anne, „schade, dass es mit Brunchen nichts wird.“

„Allein lassen wir ihn nicht“, sagte Beate. Dann, nach Feierabend, kurz nachdem sie Shabbat Shalom mit Rabbiner Joel Berger im Radio gehört hatte, klingelte das Telefon, Ihre Schwägerin war dran: Der amerikanische Onkel möchte gern nach Oranienbaum zur Ausstellung. Er wäre ganz angetan von dem Besuch der Königin Beatrix gewesen und die Ausstellung sei ja wohl etwas ganz Extravagantes:

„Neue Kunst trifft alte Meister“, sagte Anne, „Stefan möchte übrigens auch gern zur Ausstellung; Abholen um halb zehn?“

Beate rief dann gleich in der Gemeinde an, dass sie morgen niemand abholen brauche, da sie verreiste. Unerwartet. Obwohl es bereits nach um Vier war, kochte sie sich noch eine Tasse Kaffee und rauchte draußen eine Zigarette. Sie schloss die Balkontür, damit der Rauch nicht in die Wohnung zog. Falls jetzt jemand bei ihr klingeln sollte, hörte sie es natürlich nicht, aber sie öffnete sowieso niemandem. Ausgenommen denen, die das vereinbarte Klingelzeichen kannten und die kamen auch nicht mehr unangekündigt. Beate kannte den Onkel nur von Fotos, die ihr der Neffe mal gezeigt hatte. der Onkel schien größer als der zu sein und er hatte helle Augen.

Anne und Stefan waren pünktlich, saßen aber allein im Auto. Der Onkel musste noch von seiner Pension abgeholt werden; er wohnte lieber in einer Pension. Nach etwa zehn Minuten sah Beate nun einen überraschend kleinen, untersetzen Mann auf dem Bürgersteig winken: Onkel Jim:“ nice to meet You“. Er wirkte so freundlich: beigefarbene locker sitzende Hose, kariertes kurzarmiges Hemd, natürlich ein T-Shirt darunter, graues Oberlippenbärtchen. Altenglische Gesichtszüge wie auf den Fotos.

„Ich freue mich so sehr, euch kennen zu lernen.“ Der Onkel sprach ausgezeichnet deutsch. Beate musste ihn einfach herzlich umarmen.

Er würde seit Jahrzehnten immer wieder herkommen, sagte er. Seine erste Frau war aus Frankfurt gewesen. Er war früher Agrar-Ingenieur gewesen und schon immer viel unterwegs, auch in Europa. Seine zweite Frau, die Tante also, wäre dann auch noch oft mitgekommen, aber jetzt bliebe sie lieber zu Hause. „Das Alter“, sagte er.

Sie schienen die ersten Besucher zu sein, das Schloss öffnete gerade. Onkel Jim hinkte ein wenig, war aber schnell genug, um zuerst an der Kasse zu stehen. Eintrittskarte-Nummer: 5001. „5001!“ Schnell öffnete er seinen Anorak und schob die Karte in die Innentasche.

„Sie werden die Karten aber noch einige Male zeigen müssen“, sagte die Kassiererin.

Sie gingen langsam die ausgetretene Schlosstreppe hinauf. Das Schloss war noch nicht vollständig saniert und hatte somit seinen Charme erhalten. Onkel Jim hielt sich beim Hochgehen am Geländer fest und spähte schon zu den Kunstgegenständen. Da standen ganz viele Vasen; er versuchte die im Halbkreis aufgestellten bauchförmigen Vasen zu erfassen. Bestimmt zweihundert, sagte Stefan zum Onkel seiner Schwester.“ Genauso gut könnte er auch der Onkel von Anne sein“.

Stefan stürmte zum fürstlichen Austritt:

„Wenn es Ihnen - nicht Sie - gelüstet, treten Sie hinaus und begrüßen Sie Ihr Volk“, las Jim von der Wandkarte ab, pathetisch, in den Saal hinein. Die beiden Frauen hakten sich unter. Nachdem Stefan das gläserne Portal zum Schlosshof geöffnet hatte, trat Beate hinaus, jetzt den Onkel untergehakt, danach Anne, den Onkel in die Mitte genommen. Inzwischen waren viele Besucher unten am Eingang; Beate winkte zum Volk.

Nächster Saal: Auf einem langen Spiegeltisch standen feudal angerichtet Kristallschalen, Glasbecher, Etageren. Ihre Mutter habe immer noch diese Kristall-Römer aus den Siebzigern in der Wohnzimmer-Schrankwand, sagte Beate. Was war eine Wohnzimmerschrankwand? Onkel Jim fotografierte alles und jedes von allen und jeder Seite. Er machte Fotobücher daraus, wie er sagte, ein ganzes Archiv hatte er schon zu Hause in Pennsylvania. Seitdem die Kinder aus dem Hause waren, gab es mehr als genug Platz für seine diversen Sammlungen.

Beate fragte sich kurz, wie groß sein Haus wohl wäre; Ihr Bruder fragte sich, ob der Onkel wohl reich wäre und Anne fand ihn zwar liebenswürdig aber ein wenig schrullig.

Und „für einen gelungenen Abschluss“ hatte Onkel Jim den Vorschlag gemacht, noch ins Brauhaus zu gehen. Das Brauhaus, das kannte er nämlich schon. Und er hatte großen Appetit auf Sauerbraten mit Klößen und: viel Soße.

Hunger hatten die anderen auch und Stefan hatte Bier-Durst.

Da Anne zusagte, sie fahre, bestellte Stefan für sich und den Onkel noch ein zweites, großes dunkles Zwickel; natürlich würde er auch zahlen.

Der Onkel wollte noch mehr Soße und noch einen Kloß; Stefan bestellte nach.

„Und die Rechnung bitte“, sagte er zum Kellner, „alles zusammen.“

„Natürlich seid - ihr - eingeladen. Natürlich zahlt Onkel Jim, sagte Onkel Jim.

„Ihr seid doch meine neuen Verwandten in diesem Jahr.“

Die Rechnung steckte er schnell in die Innentasche seines Anoraks - zu den Walfischen und der 5000ersten Eintrittskarte:

„Für meine Sammlung“, sagte er.