Nah, wie sehe ich aus?
Vor dem Spiegel stand eine Diva: schmale Hüften - immer noch - Wallendes Bronzehaar, wartende Augen. Wie sähe ich nun aus?
Hübsch, wirklich super, beeilte sich Jochen.
Das Grün passt ausgezeichnet zu deinem Typ, deinem Herbst-Typ.
Und Punkt, dachte Claudia. Immer die gleichen Stereotype. Zwanzig Ehejahre.
Das grüne Seidenkleid hat ihr Jochen zu Ostern geschenkt; er hat es versteckt, wie beim Eiersuchen: Es lag auf Claudias Bügeltisch, sorgfältig ausgebreitet, darüber ein kariertes Handtuch. Ihr Mann liebte es, sie zu beschenken. Ihr Kleiderschrank quoll über vor Eleganz und Firlefanz. Ihr Jochen war ganz stolz darauf, seine Frau so sehr zufrieden stellen zu können.
Claudia musste heute besonders schön aussehen. Jochens ältere Schwester nullte und gab eine Geburtstagsparty.
Eine Menge interessanter Leute wird kommen, hatte sie am Telefon gesagt: Geschäftsleute, Künstler; zieh dir etwas Nettes an.
Seine Bilder sind mehr surrealistisch, er macht auch so kleine Sachen mit Pflastersteinen, sagte die Schwester. Ihre Wangen glühten feuerrot als sie ihn vorstellte. Ralf Lewandowski.
Auch Claudia konnte zusehen wie sie selbst ihre eigene Hand blitzschnell in die seine legte: Ich habe eine Ausstellung von Ihnen gesehen, in Pankow, hörte sie sich plappern. Sie spürte seine Blicke. Offen maß er ihr Gesicht vom Jochbein bis zum Kinn, von Augenbraue zur Augenbraue, von Stirn bis zum Mund.
Er lächelte. Auf das angetragene Gespräch war er nicht eingegangen.
Wir könnten gern ein anderes Mal reden, sagte er. Wenn Sie das möchten, fügte er hinzu. Er zog ein kleines Kärtchen aus seiner Jackett-Tasche. Rufen Sie mich doch mal an.
Zwei Wochen lang hatte Claudia ein paar Mal täglich diese Visitenkarte angeschaut. Die Telefonnummer kannte sie jedenfalls bereits auswendig als ihr Zeigefinger sieben acht vier zwei sieben vier eins - tippte.
Sie verabredeten sich in einem kleinen Café, am Nachmittag, um 16.15 Uhr.
Claudia experimentierte mit ihren Haaren. Hochgesteckt stand ihr besonders gut. Das wirkte klassisch, fand sie. Sowas liebten ja die Künstler.
Obwohl sie bewusst ein wenig später ankam, war sie die erste. Lewandowski kam erst kurz vor Fünf ins Café: ich musste unbedingt eine gelbe, einen lichtgelbe Rose mitbringen, entschuldigte er sich.
Das Café glich einem geräumigen plüschigen Wohnzimmer. Schwere Bordeaux-farbige Vorhänge vor den Fenstern, leise Melodien, Oldies: Bee Gees, Cohen. Auf runden Marmortischchen standen Öllämpchen, 70er-Jahre Stil.
Claudia und er saßen in einer Ecke hinter den Garderobenständer.
Du siehst hübsch aus, so wie du das Haar heute trägst. Es erinnert an die vornehmen Griechinnen der Antike.
Er duzte sie gleich.
Ralf legte seine talentierte Hand auf die ihre: ich habe heute leider keine Zeit mehr für dich, aber wir können uns morgen wiedersehen, sagte er. Wenn du das möchtest.
Und übernächsten Tag und noch ein paar Tage mehr und jedes Mal um die gleiche Zeit in diesem gemütlichen Cafe, in der Ecke, die gleichen sanften Melodien. Der gleiche Fensterplatz. Aber bald, bald würde sie etwas Besonderes erleben.